Auf den ersten Blick ist Felix E. Müllers Streitschrift „Schafft die Pensionierung ab“ primär eine Provokation an die Linken. Doch der ehemalige Chefredaktor der „NZZ am Sonntag“ analysiert unser starres Rentensystem durchaus fundiert – und er schlägt einen Bogen zur SVP-Initiative „Keine 10-Millionen-Schweiz”.
Der 74-jährige Felix E. Müller aus Zürich kann gut reden, ist man versucht zu denken. Er verdiente als Spitzenkraft im Journalismus lange Zeit mehrere hunderttausend Franken pro Jahr. Zudem musste er nicht einem körperlichen Verschleissjob auf einer Baustelle nachgehen. Kein Wunder, sorgte seine Forderung für hitzige Diskussionen: Müller möchte nichts weniger als die Pensionierung ganz abschaffen. Er hat ein 160-seitiges, handliches Buch verfasst, dessen Lektüre sich durchaus lohnt. Denn die „Streitschrift“ (so der Untertitel) wägt ab und belässt es nicht bei einer Entweder-Oder-Sichtweise. Doch alle sollen selbst bestimmen, wie lange sie arbeiten, so sein Credo.
Der ehemalige „NZZ am Sonntag“-Chefredaktor spricht von Altersdiskriminierung und volkswirtschaftlichem Unsinn. Die SP-Nationalrätin und ehemalige Stabschefin von SP-Stadtpräsidentin Corine Mauch, Céline Widmer (47), hielt auf dem Lokalsender Tele Züri dagegen. Sie findet diesen Vorschlag weltfremd. Widmer, die für die Gesamterneuerungswahlen des Stadtrats von Zürich am 8. März 2026 kandidiert, argumentierte, Müllers Idee laufe auf ein noch späteres Pensionsalter hinaus als heute. Büetzerinnen und Büetzer aber hätten ein wohlverdientes Rentnerdasein verdient nach einem strengen Arbeitsleben.
Doch hier hakt Felix E. Müller ein. So kritisiert er das sehr starre Schweizer Rentensystem bei der AHV und im Besonderen bei der zweiten Säule, der obligatorischen betrieblichen Vorsorge. Und er ist überzeugt, dass Arbeit vielen Menschen Spass macht. Er widerspricht den Sozialdemokraten und den Grünen, welche Arbeit aus Sicht von Müller vor allem als Last sehen.
Zuerst zur Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV). Diese ist seit deren Einführung 1948 nie umfassend reformiert worden, obwohl seither die Lebenserwartung massiv gestiegen ist. „In der Schweiz pensionieren wir nach wie vor schematisch und pauschal“, ist Müller überzeugt. 1948 lag die Lebenserwartung bei den Männern bei 65 Jahren, bei den Frauen bei 70 Jahren. 2024 sterben Männer im Schnitt erst mit 82,4 Jahren, Frauen gar erst mit 85,9 Jahren. Dass das Pensionierungsalter immer noch so sei „wie zu Bismarcks Zeit“, stört Felix E. Müller gewaltig. Damals, als laut Müller die „Kamine schloteten und ein guter Teil der Arbeiter viel schuftete, wenig verdiente und unter schlechten hygienischen und gesundheitlichen Bedingungen lebte.“
Teilzeitarbeit wird in der Schweiz bestraft
Das ist aber längst vorbei. Laut Müller werde zumindest in der Schweiz fast keine harte und zehrende industrielle Arbeit mehr verrichtet. Das mag falsch sein. Doch immerhin spricht sich Müller dafür aus, dass nach einem sehr langen Arbeitsleben (im Minimum 42 Jahre) eine recht frühe Rente möglich sei. Er zieht dazu das Beispiel von Dänemark bei, wo man sich maximal sechs Jahre vor 65 pensionieren lassen kann. Wo man aber die Pensionierung auch um maximal 10 Jahre aufschieben kann, was zu einer höheren Pension führt. Oder in Norwegen, wo man als Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin eine Zeitspanne zwischen 62 und 75 hat. Eine staatliche Rente erhält man mit 67, unabhängig davon, ob man weiterarbeitet oder nicht. Ähnliches ist in Schweden möglich, wo bis zum 69. Lebensjahr ein Recht besteht, zu arbeiten.
Das Stichwort „Lebensarbeitszeit“ wie in Dänemark geistert auch in der Schweiz seit Längerem herum, passiert ist bi…

Der Titel „Schafft die Pensionierung ab“ ist provokativ, wie man es von einem Journalisten erwarten darf. Der Inhalt des Buchs ist aber differenziert. Kritisiert werden die Linken, aber auch unser starres Rentensystem. Bild: Lorenz Steinmann
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